Prof. Dr. Elisabeth Lienert

Mein Fach, die Ältere deutsche Literaturwissenschaft, befasst sich mit deutschen Texten von den Anfängen bis um 1600. Dazu gehört auch die Frage nach kulturellen, historischen, medialen und diskursiven Bedingungen und vor allem nach dem europäischen Kontext vormoderner Literatur. Von Haus aus bin ich Philologin, mit Forschungsschwerpunkten in Überlieferungsgeschichte und Edition; daneben liegt ein starker Schwerpunkt im Bereich der Erzählforschung.

In vormodernen Texten sind Widersprüche omnipräsent: widersprüchliche Konzeptualisierungen, Selbstwidersprüche und Konterdiskursivität, Erwartungs- und Erzählbrüche. Seit einigen Jahren befasse ich mich dementsprechend mit widersprüchlichem Erzählen: in einem Explorationsprojekt zu Widerspruch als Erzählprinzip in der Vormoderne, zwei Tagungen und Sammelbänden zu Poetiken des Widerspruchs und widersprüchlichen Figuren im Erzählen der Vormoderne, einem Lehr- und Buchprojekt „Erzählen im Widerspruch“ und einem neuen DFG-Projekt „Erzählbrüche. Die Heterogenität früher deutscher Prosa“ (mit Thomas Althaus). Leitfragen sind: Was erscheint als Widerspruch und wer nimmt Widersprüche wahr? Wie verhalten sich Sinnstiftung durch Erzählen und Sinnverweigerung (oder Sinnkomplexion?) durch Widersprüche? Wie gestaltet sich textspezifisch ein Spannungsfeld von Widersprüchlichkeit und Kohärenz? Welche Rolle kann das Postulat der Widerspruchsfreiheit in alteritären Erzähllogiken der Vormoderne spielen? Gehören Widersprüchlichkeit und/oder Widerspruchstoleranz zur medial bedingten Alterität vormoderner Literatur? Was macht widersprüchliche Figuren aus? Wie werden widersprüchliche Wissensbestände und Normen narrativ verhandelt? Wie verhalten sich kontroverse Konzeptualisierungen, narrative Strategien des Umgangs mit Widersprüchlichem, Akte der Widerrede und potentielle Konterdiskursivität in den Texten zueinander?

Im Kolleg stehen mein Fach und ich für die Dimensionen der Historizität und Diskursivität von Widersprüchen ein, insbesondere für eine bereits vormoderne Tradition von Widerspruchstoleranz und für Untersuchungen zu einer Textualität des Widersprüchlichen in historischer Perspektive.

Willkommen sind Projektvorschläge zur Textualität des Widersprüchlichen in deutschsprachigen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bis um 1600.

Dekoloniale Wissensproduktion

„Dezentralisierende und dekolonisierende Wissensproduktion über Widerspruch, widersprüchliche Phänomene und widersprechende Prozesse ist eine herausfordernde Aufgabe.“

Kerstin Knopf
artikulieren

„Widersprüche müssen artikuliert werden, damit sie existieren.“

Martin Nonhoff
Raum

„Mit Niklas Luhmann kann man Raum als ‚Sondereinrichtung zur Negation von Widersprüchen‘ begreifen.“

Julia Lossau
Illusion einer Einheit

»Foucault spricht vom Widerspruch als die Illusion einer Einheit

Ingo H. Warnke
Bhabha zu Aufklärung und Kolonialität

„Homi Bhabha sagt über den Widerspruch zwischen den Idealen der Aufklärung, dem Anspruch auf Demokratie und Solidarität und der gleichzeitigen Kolonisierung und andauernden Kolonialität: ‚Diese ideologische Spannung, die in der Geschichte des Westens als despotische Macht im Moment der Geburt von Demokratie und Moderne sichtbar wurde, ist noch nicht angemessen in einer widersprüchlichen und kontrapunktischen Diskurstradition beschrieben worden.‘“

Kerstin Knopf