Forschungsprogramm

Das Graduiertenkolleg »Contradiction Studies – Konstellationen, Heuristiken und Konzepte des Widersprüchlichen« erforscht die Herausbildungen, Aushandlungen und Erklärungsgrenzen von Konstellationen des Widersprüchlichen. Es fragt sowohl nach der Wandelbarkeit als auch nach dem Beharrungsvermögen von Widersprüchen in Bindung an und jenseits des Gebots der Widerspruchsauflösung. Um es ganz verallgemeinert zu sagen: Das Forschungsprogramm, des neuen Graduiertenkollegs untersucht die Ordnungsfigur des Widerspruchs innerhalb widersprüchlicher Welten (i) in interdisziplinärer Perspektivierung der Geistes-, Sozial- und Rechtswissenschaften (ii) mit einem Interesse an Formen des Lebens in und mit Widersprüchen und (iii) in kritischer Reflexion einer westlichen/nördlichen Wissensgeschichte.

Ausgangspunkt des Kollegs

Als orientierender Ausgangspunkt kann folgende Unterscheidung zwischen Widerspruch im Singular und Widersprüchen im Plural dienen. Unter einem ›Widerspruch‹ im Singular verstehen wir eine Relation oder Konstellation, die durch jemanden als widersprüchlich gekennzeichnet wird. Jemand muss sagen »Das ist ein Widerspruch«, damit etwas als Widerspruch erkennbar werden kann. Die entsprechende Diagnose oder Deklaration ist an das tradierte Prinzip der Widerspruchsfreiheit und das damit einhergehende Gebot zur Widerspruchsauflösung gebunden. Wer »Widerspruch« sagt, sagt unweigerlich auch »Da ist was nicht in Ordnung – hier muss etwas aufgelöst werden«.

Gleichzeitig ist Widerspruchsfreiheit aber keineswegs in allen Wirklichkeitsbereichen ein so hohes Gut wie etwa in den Wissenschaften, im Recht und nicht zuletzt natürlich in der Logik. Vielmehr begegnet der Anspruch auf Widerspruchsfreiheit überall Welten voller Widersprüche, die diesen Anspruch auch ignorieren, ihn zurückweisen oder sich ihm widersetzen können. Als ›Widersprüche‹ im Plural werden deshalb im GRK unhintergehbare, heterogene Ensembles der Widersprüchlichkeiten des Zusammenlebens definiert, die zu Widerspruch als einer machtvollen Ordnungsfigur in spannungsvollen Relationen stehen kann. Wenn wir im Untertitel des Kollegs von Konstellationen, Heuristiken und Konzepten des Widersprüchlichen sprechen, dann meinen wir genau diese Relationen und denken dabei bereits an Dimensionen wie empirische Fallstudien zu spezifischen Konstellationen von Widerspruch und Widersprüchen; an Heuristiken und Methoden, die Widerspruch und Widersprüche mobilisieren; an komplexe Dynamiken und Prozesse oder auch theoriesystematische oder historisch-genealogische Projekte zu Konzepten des Widerspruchs und seiner Nebenbegriffe (beispielsweise Paradoxon, Anomie oder Foucaults »Räume der Entzweiung«).

Unsere Leitfragen

Die Frage, die sämtlichen Projekten des Kollegs zugrunde liegt und Eckstein der Fokussierung des Forschungsprogramms ist, lautet:

Wie, wo und wann sind soziale, politische, kulturelle, rechtliche und wissenschaftliche Konstellationen des Lebens in und mit Widersprüchen an das Prinzip der Widerspruchsfreiheit bzw. das Gebot der Widerspruchsauflösung gebunden oder davon gelöst, und wie, wo und wann wird dabei Widerspruch als Ordnungsfigur affirmiert oder hinterfragt bzw. hinterfragbar?

Aus dieser zentralen Forschungsfrage des Kollegs leiten wir vier Teilfragen ab:

(i) Welche Praktiken, Repräsentationen und Materialitäten affirmieren oder hinterfragen Widerspruch als Ordnungsfigur?

(ii) Welche Geltungs- und Machtansprüche bestimmter Akteure sind mit dem Gebot der Widerspruchsauflösung verbunden, welche mit der Kritik daran?

(iii) Wo und wann werden Widersprüche sicht- bzw. sagbar/benennbar oder toleriert und wo und wann werden sie unsichtbar gemacht?

(iv) Wo und wann erfolgt Widersprechen in Bindung an und jenseits des Gebots der Widerspruchsauflösung?

Im Rahmen von Contradiction Studies sind diese Fragen aufeinander bezogen. Diese Interdependenzen gelten auch für das analytische Interesse des GRK am Widersprechen als Praktik in den Widersprüchlichkeiten des Zusammenlebens. Widersprechen wird im Kolleg als Praktik in diversen Auseinandersetzungen mit Widerspruch, Widerspruchsauflösung und Widersprüchen in den Blick genommen. Dazu zählen Praktiken des Protests, der eine große Bandbreite von Praktiken der Opposition und des Dissenses umfasst.

Mögliche Forschungsprojekte

Wir freuen uns auf Ideenskizzen und Projektvorschläge, die Konstellationen des Widersprüchlichen als einen disziplinären und/oder interdisziplinären Forschungsgegenstand ernst nehmen und seine konstitutive Bedeutung für Sozial- und Wissensordnungen sichtbar machen. Genauso interessiert sind wir an Ideen und Forschungsdesigns, die darauf zielen, die Ordnungsfigur des Widerspruchs, die prominent in einer europäisch-westlichen Wissensgeschichte und Wissensproduktion verankert ist, kritisch zu hinterfragen, auf ihre Grenzen hin zu untersuchen und beispielhaft zu provinzialisieren (Chakrabarty) beziehungsweise zu dekolonisieren. Die Arbeitsbereiche des Kollegs werden sich um (1) Praktiken, (2) Texte/Objekte sowie (3) Normen organisieren. Thematisch sowie von den theoretischen Positionen her gibt es keine Einschränkungen; die vorgeschlagenen Projekte müssen jedoch im Fächerspektrum der am Kolleg beteiligten Wissenschaftler:innen liegen.

Normhierarchie

„Wenn sich gesellschaftliche Widersprüche im Recht widerspiegeln, kann das Recht keine widerspruchsfreie Normhierarchie ausbilden.“

Andreas Fischer-Lescano
ein (aufzu)lösendes Problem

„Widerspruch ist oft nicht primär ein (aufzu)lösendes Problem, sondern eine Antriebskraft, ohne die es nicht geht.“

Martin Nonhoff
Macht und Widerstand

„Michel Foucault sagt: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch […] liegt dieser Widerstand niemals außerhalb der Macht“ (Geschichte der Sexualität I, Der Wille zum Wissen, 1983 [1976], S. 96)“

Gisela Febel
Stadt

„Die Stadt ist nicht nur ein Labor der Moderne, sondern auch ein Labor von Widersprüchen.“

Julia Lossau
Bhabha zu Aufklärung und Kolonialität

„Homi Bhabha sagt über den Widerspruch zwischen den Idealen der Aufklärung, dem Anspruch auf Demokratie und Solidarität und der gleichzeitigen Kolonisierung und andauernden Kolonialität: ‚Diese ideologische Spannung, die in der Geschichte des Westens als despotische Macht im Moment der Geburt von Demokratie und Moderne sichtbar wurde, ist noch nicht angemessen in einer widersprüchlichen und kontrapunktischen Diskurstradition beschrieben worden.‘“

Kerstin Knopf